Wer die Zeitung unter der Rubrik „Blaulicht“ aufschlägt oder digital die lokalen Nachrichten verfolgt, findet mitunter den Hinweis: „Ein Notfallseelsorger/ eine Notfallseelsorgerin betreute die Angehörigen bzw. die Einsatzkräfte nach dem Einsatz.“ Was steckt hinter dem Stichwort „Notfallseelsorge“ und welche Personen haben mit Notfallseelsorge zu tun?
Diese Fragen kann am besten der leitende Notfallseelsorger beantworten. Für den Südteil des Landkreises Stade ist das Pastor Andreas Hellmich aus Bargstedt. Er ist seit 24 Jahren als Verantwortlicher in der Notfallseelsorge und seit 8 Jahren im Kirchenkreis Buxtehude tätig. In einem Gespräch mit der Öffentlichkeitsbeauftragten, Christa Haar-Rathjen, teilte er seine Erfahrungen mit.
Was unterscheidet Notfallseelsorge von der „ganz normalen“ Seelsorge, die z. B. in der Gemeindearbeit vorkommt, wenn ein Gemeindemitglied in einer persönlichen Angelegenheit um Hilfe bittet?
Als Hilfe in der Not zunächst einmal gar nichts. Wer Hilfe in einer kritischen Lebenssituation sucht, kann sich immer an das Gemeindepfarramt wenden. Aber wer von einer Situation umgehauen wird, kann ja kaum einen klaren Gedanken fassen. Wer ruft in dem Augenblick bei der Kirchengemeinde an? Und vor allem: Was nützt dann der Anrufbeantworter oder die Sekretärin, wenn unmittelbar jetzt Hilfe gebraucht wird? Da geht es nicht nach Terminverabredung.
Das System der Notfallseelsorge vereinfacht vieles, wenn Polizei, Rettungsdienst oder Feuerwehr bei einem Einsatz sehen, dass Unterstützung für einen Menschen in seiner Not hilfreich sein könnte. Vielleicht vergewissern die Rettungskräfte sich noch, ob sie jemanden rufen sollen, der Zeit für die Betroffenen im Umfeld eines Notfalls hat. Dann machen Rettungskräfte das, was sie immer machen, wenn sie Unterstützung brauchen: Sie melden sich bei der Leitstelle für Rettungsdienst und Feuerwehr. Im wahrsten Sinne des Wortes „auf Knopfdruck“ wird dann die Notfallseelsorge alarmiert. 24 Stunden an 7 Tagen die Woche ist die Unterstützung möglich, weil wir als Team dafür sorgen.
Muss ich in der Kirche sein, um von der Notfallseelsorge Hilfe zu bekommen?
Not kennt keine Grenzen. Hilfe in der Not auch nicht. Was ein Mensch glaubt oder nicht, ist für uns als Notfallseelsorgende nicht entscheidend. Oft wissen wir es ja auch gar nicht. Müssen wir auch nicht, außer, es würde sich daraus Hilfreiches ableiten. Notfallseelsorge kostet auch nichts, weder für die Notleidenden noch für die Einsatzorganisationen. Es ist ein Service der Kirche, bezahlt aus Kirchensteuern und manchmal unterstützt von einer Spende oder Kollekte.
Wer gehört im Kirchenkreis Buxtehude zum Kreis der Notfallseelsorge?
Viele Pastorinnen und Pastoren unseres Kirchenkreises haben sich neben ihrer beruflichen Qualifikation speziell im Bereich der Notfallseelsorge, und zum Teil der Einsatznachsorge von Einsatzkräften, weitergebildet. Dazu kommt eine ehrenamtliche Notfallseelsorgerin, die im Hauptberuf Psychologin ist und Erfahrungen als Einsatzkraft in Rettungsdienst und Feuerwehr mitbringt. Insgesamt sind wir in unserem Bereich 24 Personen, die zum Notfallseelsorge-Team gehören.
Der Kirchenkreis Stade zieht sich von Kehdingen bis zum Alten Land, das bis an die Stadt Buxtehude heranreicht. Daher macht es mehr Sinn, wenn die Altländer in der Notfallseelsorge mit dem Kirchenkreis Buxtehude zusammenarbeiten. Dementsprechend ist unser Team zusammengesetzt. Deshalb war z.B. bei der Gewalttat in Fredenbeck ein Kollege aus dem Kirchenkreis Stade. Als Pastor im Alten Land ist er Teil unseres Teams der „Notfallseelsorge Süd“. Die kirchliche Arbeit in Stade und nördlich von Stade bilden das System „Notfallseelsorge Nord“.
Welcher Art sind die Einsätze?
Im vergangenen Jahr hatten wir in unserem Bereich insgesamt 62 Einsätze, davon waren 53 im häuslichen Umfeld. Das heißt z.B.: Jemand wird tot aufgefunden oder jemand muss reanimiert werden und es bleibt erfolglos ... oder es droht, erfolglos zu sein. Die Aufregung ist natürlich groß. Und wenn dann auch noch jemand allein ist oder alle, die da sind, in heller Aufregung sind, können die Einsatzkräfte die Notfallseelsorge alarmieren lassen. 85 Prozent aller Einsätze geschehen im häuslichen Bereich. Dazu gehören ebenso der Suizid oder das Überbringen einer Todesnachricht mit der Polizei.
Im öffentlichen Raum kann es beispielsweise ein Bahnunfall sein, bei dem das Zugpersonal, Fahrgäste oder Unfallbeteiligte in der ersten Phase nach dem Erlebten begleitet werden. Oder wir stehen Ersthelfenden nach einem Verkehrsunfall zur Seite. Von den meisten Einsätzen bekommt die Öffentlichkeit nichts mit. Einsätze wie die Gewalttat in Fredenbeck oder ein schrecklicher Verkehrsunfall, in dessen Zusammenhang die Notfallseelsorge erwähnt wird, sind nur ein winziger Ausschnitt.
Und wie sieht es mit den Einsatzkräften aus?
Die Begleitung von Einsatzkräften, die Schreckliches erlebt haben, kann ebenfalls dazu gehören. Es kann für sie hilfreich sein, einen kompetenten Ansprechpartner zu haben, sei es für eine Nachbesprechung in der Gruppe oder auch persönlich. Da unsere Ehrenamtliche sowie ein Kollege und ich aus der Feuerwehr bzw. dem Rettungsdienst kommen, kann das Gespräch leichter fallen. Wir sprechen mit den Einsatzkräften eine Sprache und wir wissen, wovon wir reden, wenn wir Erlebtes aus der Sicht der Einsatzkraft im Blick haben.
Wesentlich ist für Einsatzkräfte, dass sie das Thema „Umgang mit psychischen Belastungen“ bereits in Aus- und Fortbildung kennenlernen, so wie sie alles andere ja auch vorher lernen und nicht erst im Einsatz. Dabei unterstützen wir aus dem Bereich der Notfallseelsorge. Da hat sich vieles gewandelt im Vergleich zu den Zeiten, als jede und jeder selbst zusehen musste, wie er oder sie damit klarkommt. In meinem Ehrenamt als Fachberater des Landesfeuerverbandes Niedersachsen sowie als Fachberater der Feuerwehrunfallkasse Niedersachsen wirke ich daran mit, dass es noch selbstverständlicher wird, dass Einsatzkräfte an sich denken und Hilfe bekommen können, wenn es auf der Seele brennt. Dazu gehören frühzeitige Beratungsgespräche, die im Rahmen der Notfallseelsorge einen Verarbeitungsprozess in eine konstruktive Richtung lenken können.
Wie kommt die Notfallseelsorge denn zum Einsatz?
Das Team gewährleistet eine Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft. Auf die Notfallseelsorge kann man sich verlassen. In einem Dienstplan ist festgehalten, wer jeweils im Dienst ist. Wenn eine Alarmierung erfolgt, reagiert die diensthabende Person und gibt eine Rückmeldung an die Leitstelle, dass sie sich nun um den Einsatz kümmert. Es kommt also etwas in Gang. Wenn das Gemeindepfarramt im Einsatzbereich erreicht werden kann und sich von dort jemand auf den Weg macht, verkürzt es die Anfahrtszeit. Wenn niemand erreichbar ist, wird nicht lange gefackelt: Dann macht sich die diensthabende Person auf den Weg. Nachts fährt von vorneherein der/ die Diensthabende.
Wie muss ich mir das vorstellen? Wie läuft ein Notfallseelsorgeeinsatz ab?
Die Alarmierung geschieht über die Leitstelle für Rettungsdienst und Feuerwehr, im Regelfall ausgelöst durch Polizei, Rettungsdienst oder Feuerwehr. Wenn die Notfallseelsorge eintrifft, entlastet es die Einsatzkräfte. Es kommt jemand, der sich jetzt um die Menschen in der Not kümmert.
Unsere Devise: Keiner muss allein sein. Die Einsatzkräfte wollen und müssen sich jedoch wieder auf den Weg machen. Andere Personen des Vertrauens sind noch nicht da. Oder die, die da sind, stehen selbst unter Schock. Dann kann es hilfreich sein, dass die Notfallseelsorge da ist. Sie bringt Zeit mit. Sie weiß, was so ein seelischer Schock bedeuten kann - oder was gerade in der Situation geschieht. Was macht zum Beispiel die Polizei hier? Die Notfallseelsorge bringt Verständnis für die Reaktionen der Betroffenen mit. Wenn die persönliche Welt erschüttert ist, hilft die Notfallseelsorge, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Was ist passiert? Was kann jetzt hilfreich werden? Die Notfallseelsorge ist in einer solchen Situation eine Erste Hilfe für sie Seele und begleitet Menschen an den Grenzen des Lebens. In der Regel bleibt es bei einem einmaligen Kontakt. Gegebenenfalls wird eine weitere Begleitung vermittelt.
Was mache ich, wenn ich mit Kirche nichts am Hut habe?
Es geht darum, dass jemand an meiner Seite ist und Zeit hat. Neben ergänzendem Wissen, wie zum Beispiel über Einsatzabläufe von Polizei, Feuerwehr und Rettungsdienst, ist vor allem psychologisch-seelsorgliche Kompetenz gefragt. Da ist es weniger wichtig, welches „Typenschild“ jemand trägt. Als Kirche haben wir viel Erfahrung mit Lebenskrisen. Deshalb bieten wir Unterstützung an und haben uns im Landkreis Stade seit 27 Jahren als verlässliche Partnerin für Menschen in Not bewährt.
Es heißt „Notfallseelsorge“. Wieviel Kirche ist denn drin?
Grundsätzlich halte ich eine lebensbejahende Haltung für wesentlich. Auch der gebrochene Mensch hat seine Würde. Leid gehört zum Leben, muss aber nicht das Ende markieren. So begegnet es uns als Atem christlichen Glaubens.
Speziell als Mitarbeitende der Kirche bringen wir über die psychologisch-seelsorgliche Kompetenz hinaus Ritualkompetenz mit. Entscheidend ist, was der Mensch in der Not braucht und was ihm jetzt hilft. Wenn ein Gebet oder das Ritual einer Aussegnung gewünscht ist, kann es von der Notfallseelsorge erwartet werden. Es muss jedoch zu den Menschen und der Situation passen. Immer entscheidet der Mensch in seiner Not, was er haben will oder nicht.
Als Mitarbeitende der Kirche stehen wir außerdem unter dem Schutz des Seelsorgegeheimnisses. Das ist mehr als die Verschwiegenheit, die für alle Einsatzkräfte gilt. Zum Beispiel bei strafrechtlich relevanten Vorgängen wie rings um einen Unfall muss eine Einsatzkraft gegebenenfalls aussagen. Wenn es eine seelsorgliche Gesprächssituation war, bleibt der Inhalt des Gespräches mit der Notfallseelsorge vor jedem Zugriff durch Polizei und Justiz geschützt. Seelsorge öffnet einen Raum für die verletzte Seele.
Was passiert denn, wenn mehrere Angehörige oder Unfallbeteiligte betroffen sind?
Grundsätzlich kommt mit der Notfallseelsorge eine Person. Mitunter ist aber schon bei der Alarmierung klar, dass mehr Personal erforderlich ist. Zum Beispiel bei einer Notfallsituation in einer Schule sind wir mit mehreren Personen gewesen. Manchmal zeigt es sich auch in der Situation, so dass Unterstützung nachgefordert wird. Wir sind ja ein Team. Das ist gut und wichtig.
Wie gehst Du selbst mit dem Erlebten um?
Da hat jede und jeder einen eigenen Weg, um wieder Distanz zum Erlebten zu bekommen und damit zu leben. Für mich zählt dazu zum Beispiel das bewusste Anziehen und Ausziehen der Einsatzkleidung. Oder auch körperliche Betätigung wie Radfahren oder Spazierengehen. Jede/r aus unserem Team hat selbstverständlich auch die Möglichkeit der Supervision.
Für mich persönlich ist ebenso wichtig, dass ich darin gewiss bin: Ich bin nicht allein unterwegs. Weder im Einsatz noch nach dem Einsatz. Gott ist bei mir. Bei ihm kann ich mir alles von der Seele reden. Ihm vertraue ich Menschen und Situationen an. Es hilft mir, loslassen zu können und es in guten Händen zu wissen.